Wie das Coronavirus die Organe schädigt
Michael Brendler und Regine Warth, 18.05.2020 – 14:40 Uhr
Menschen, die mit dem neuartigen Coronavirus infiziert sind, entwickeln ein hohes Risiko für Herzinfarkte, Schlaganfälle oder akutes Nierenversagen. Forscher versuchen herauszufinden, was dahinter steckt.
Bei der Frau sprach alles für ein gefährliches Herzproblem: Das Organ pumpte nur noch mit halber Kraft, was die massive Müdigkeit der 53-Jährigen erklärte. Die Zacken auf dem EKG ähnelten denen eines Infarktpatienten, sagt der italienische Notfallmediziner Ende März in der Fachzeitung Jama Cardiology.
Auch das viele Troponin im Blut war besorgniserregend. Das Protein taucht in derart großen Mengen eigentlich nur im Kreislauf auf, wenn er von zerstörten und sterbenden Herzmuskelzellen freigesetzt wird. Im Prinzip ein Krankheitsbild, wie es Mediziner täglich erleben. Dass der Bericht trotzdem in der Fachzeitung veröffentlicht wurde, hatte einen Grund: Bei der Untersuchung fanden sich keine verstopften Herzkranzgefäße, dafür jedoch im Rachenabstrich das Coronavirus.
Die Virusinfektion greift nicht nur die Lunge an – sondern auch das Herz
In der Zwischenzeit hat es noch mehr solcher Berichte gegeben, die den Verdacht bestätigen, dass die Virusinfektion nicht nur die Lunge, sondern auch das Herz angreift: So könnte es sein, dass die von der Infektion ausgelösten entzündlichen Prozesse und Immunreaktionen für diese Herzschädigungen verantwortlich sind. Oder aber das Virus selbst kann diese Schäden verursacht haben.
Eine plausible Erklärung wäre zur Hand: Die Struktur, an die der Erreger andockt und über die er in Zellen eindringt, gibt es nicht nur reichlich in Lunge und Atemwegen, sondern auch in Herzmuskelzellen. Hier hilft der sogenannte ACE2-Rezeptor ebenfalls dabei, den Blutdruck zu regulieren. Er ist aber auch in vielen anderen Organ zu finden: Auf Leber- und Darmwänden, dem Inneren von Blutgefäßen, sogar im Nervensystem.
Mehr als 80 Prozent der Infizierten entwickeln eine Riech- und Geschmacksstörung
Das würde nach Angaben der Deutschen Gesellschaft für Neurologiebeispielsweise erklären, warum mehr als 80 Prozent der Covid-19-Patienten eine Riech- und Geschmacksstörung entwickeln. Demnach liegen diese Andockstellen auf Zellen, die etwa die Sinneszellen in der Nase mit Nährstoffen und ähnlichen Dingen versorgt. Blockiert das Virus diese Rezeptoren, können die Sinneszellen nicht mehr funktionieren.
Ob ein ähnlicher Prozess auch dazu führt, dass nach Beobachtung von Roland Francis, stellvertretender Direktor der Klinik für Anästhesiologie und operative Intensivmedizin an der Charité Berlin, viele Intensivpatienten mit einer Covid-19-Infektion ein akutes Nierenversagen entwickeln, ist noch unklar. Eine alternative Erklärung: Störungen der Nierenfunktion zählen zu den potenziellen Nebenwirkungen jeder Intensivtherapie. Flüssigkeitsverluste und Medikamente, die für die Nieren schlecht verträglich sein können wie einige Antibiotika, addieren sich oft zu einer toxischen Mischung, die die Organfunktion zusammenbrechen lässt.
Das Immunsystem reagiert auf den Erreger ganz besonders sensibel
Dies gilt im Besonderen, wenn Abwehrzellen den Körper mit ihren Botenstoffen überschwemmen. Solche Zytokinstürme lassen Gerinnungssystem, Gefäße und Blutzellen verrücktspielen. Bei Covid-19 sind sie überdurchschnittlich häufig. Offenbar reagiert das Immunsystem auf diesen Erreger ganz besonders sensibel.
Eine weitere Beobachtung, die zeigt, wie vielfältig das Virus den Körper und seine Organe angreift, lieferten Hamburger Pathologen Anfang Mai in ihrem Bericht in der Fachzeitung „Annals of internal medicine“. Bei der eine Autopsie von zwölf Covid-19-Verstorbenen fielen ihnen neben Virusspuren in Niere, Herz und Leber, besonders viele Blutgerinnsel in den Beinvenen auf – und zwar bei mehr als der Hälfte der Patienten.
Bei vielen Patienten finden sich Blutgerinnsel – etwa in der Lunge
Thrombosen und durch Blutgerinnsel verstopfte Gefäße seien zwar nicht ungewöhnlich bei schwerkranken Intensivpatienten, aber längst nicht so häufig und in vergleichbaren Dimensionen wie bei Covid-19-Fällen, sagt Paul Biever, der Covid-Koordinator der Intensivstationen der Uniklinik Freiburg. Bei einem von drei schwerkranken Corona-Patienten lösen sich solche Thromben und werden in die Lunge ausgeschwemmt. Lungeninfarkt oder -embolie nennt sich die lebensgefährliche Komplikation. Thromben wurden aber auch schon in den Nieren und in anderen Organen von Covid-19-Opfern entdeckt. Dort können sie ebenfalls die Blutzufuhr gefährlich abschnüren. Ob das Virus auch auf diese Weise das Schlaganfallrisiko erhöht, ist noch unklar. Generell sei die Datenlage zu Covid-19 und den neurologischen Folgen „noch recht dünn“, so die Deutsche Schlaganfall Gesellschaft.
Die Gründe, warum der Erreger im Blut so ein Chaos anrichtet, sind ebenfalls noch nicht geklärt. Möglicherweise ist auch dies eine Folge der Überreaktion der Abwehrzellen. Gerinnungs- und Immunsystems sind eng miteinander verzahnt. Bei SARS-CoV-2 kommt womöglich dazu, dass der Erreger durch eine Attacke auf die Gefäßwandzellen auch indirekt die Bildung von Thromben anstößt. Darauf deutet eine Studie vom Uniklinikum Zürich hin – ebenfalls durchgeführt von Pathologen. Diese gehen davon aus, dass die Lungenerkrankung Covid-19 zu einer „systemischen Gefäßentzündung“ führt, die Durchblutungsstörungen und Gefäßverschlüsse verursacht.
Leber und Darm bleiben von den Viren nicht verschont – aber der Effekt ist nicht so schlimm
Andere Organe bereiten den Medizinern weniger Schwierigkeiten. Durchfall – der Erreger wurde inzwischen auch in Darmzellen entdeckt – seien zwar bei Coronapatienten nicht selten, aber das bekomme man schnell in Griff, erzählt Dawid Staudacher, der zusammen mit Biever auf der Intensivstation der Freiburger Klinik tätig ist. Die Leber erledigt ebenfalls mehr oder weniger ungestört ihre Funktion.
In Hinblick auf das Herz hat die Medizin inzwischen weitestgehend Entwarnung gegeben. Manchmal müsse man zwar Medikamente geben, um den Blutdruck der Patienten zu stabilisieren, berichtet der Berliner Roland Francis, „aber wir sehen nicht, dass die Infektion sich negativ auf die Herzleistung auswirken würde.“ Auch Rhythmusstörungen haben die beiden Internisten Staudacher und Biever in Freiburg kaum beobachten können. Der hohe Troponinwert scheint nicht zu bedeuten, dass das Virus im großen Umfang Herzmuskelzellen schädigt.